Anpassung als Leitmotiv der nächsten Gesellschaft: Eine kritische Betrachtung

Cover Philipp Staab: Anpassung ISBN 978-3-518-12779-7

Die Frage, wie sich die Menschheit in einer Welt voller Umbrüche und Herausforderungen verhalten soll, ist zentral für die Gestaltung unserer Zukunft. Philipp Staabs Buch “Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft” (Suhrkamp Verlag, 2022) liefert hierzu einen wichtigen Beitrag. Er analysiert die Notwendigkeit und die verschiedenen Facetten von Anpassung als Schlüsselkompetenz in einer Gesellschaft, die sich vom Fortschrittsglauben verabschieden muss.

Cover Philipp Staab: Anpassung ISBN 978-3-518-12779-7Cover Philipp Staab: Anpassung ISBN 978-3-518-12779-7

Freiheit und Abhängigkeit in der modernen Welt

Die Menschenwürde, ein zentraler Wert unserer Gesellschaft, manifestiert sich in der Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Handeln und Unterlassen zu finden. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Anpassung und Widerstand. Während Anpassung Begriffe wie Abstimmung, Angleichung und Assimilation umfasst, beinhaltet Widerstand Auflehnung, Gegenwehr und Resilienz. Diese scheinbaren Gegensätze können jedoch auch als Synonyme betrachtet werden, die uns Orientierung geben und gleichzeitig Grenzen und Veränderungen aufzeigen.

Angesichts der zunehmenden Globalisierung und der damit einhergehenden Herausforderungen stellt sich die Frage, wie wir als Menschheit mit diesen Interdependenzen umgehen sollen. Zwei grundlegende Perspektiven kristallisieren sich heraus: Einerseits der Appell der “Weltkommission Kultur und Entwicklung” zur Neuausrichtung unserer Lebensformen, andererseits die kritische Frage, ob der Mensch alles tun darf, was er kann oder zu können meint.

Anpassung: Ein neues Leitmotiv?

Die oftmals missverstandene biblische Aufforderung, sich die Erde untertan zu machen, wird im modernen Bewusstsein durch die Erkenntnis relativiert, dass der Mensch ein integraler Bestandteil des ökologischen Ganzen ist. Dadurch gewinnt die Anpassung eine völlig neue Bedeutung. Philipp Staab sieht darin sogar das neue Leitmotiv der nächsten Gesellschaft: die Fähigkeit zur Lebensführung in einer Welt, in der es kein Zurück zu unbegrenztem Fortschritt gibt.

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Die adaptive Gesellschaft: Ein Konzept in sechs Schritten

Staab entwirft das Bild einer “adaptiven Gesellschaft”, die sowohl individuell als auch kollektiv, lokal als auch global in der Lage ist, mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Er nähert sich diesem Konzept in sechs Schritten:

  1. Metamorphosen der Anpassung: Untersuchung der vielfältigen Formen und Wandlungen von Anpassung.
  2. Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung: Wie können wir uns selbst verwirklichen und gleichzeitig unsere Existenz sichern?
  3. Ent-Täuschung der Moderne: Eine kritische Auseinandersetzung mit den gescheiterten Versprechen der Moderne.
  4. Adaptive Rebellion: Die Notwendigkeit, sich anzupassen, aber auch Widerstand zu leisten, um positive Veränderungen zu bewirken.
  5. Kritikalität und Kritik: Differenzierung verschiedener Formen von Kritik als Instrumente der Anpassung.
  6. Protektive Technokratie: Die Rolle von Technologie und politischer Steuerung bei der Bewältigung globaler Herausforderungen.

Inhaltliche Schwerpunkte: Von Fortschrittskritik bis zur Technologie

Staab plädiert für eine Abkehr vom unkritischen Fortschrittsglauben und für eine “adaptive Kritik” am ökonomischen “Immer-Mehr”. Er betont, dass wir lernen müssen, das Gemeinwohl über individuelle Interessen zu stellen. Die Anpassung wird somit zur “Mobilisierung für die Freiheit”, die uns ermöglicht, sozialökologische, solidarische und erdbewusste Lebensweisen zu entwickeln.

Die Auseinandersetzung mit Anpassungsprozessen ist im wissenschaftlichen Diskurs von großer Bedeutung. Es bedarf einer erhöhten politischen Aufmerksamkeit und eines Perspektivenwechsels, um in Zeiten von Unsicherheiten und Krisen ein neues resilientes Bewusstsein zu entwickeln. Die Corona-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, dass eine “kulturelle Überbewertung des Individuums” zu Egozentrismus führen kann und ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl erforderlich ist.

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Diskussion: Vom Kapitalismus zur “neuen Menschheit”?

Staab stellt die Frage, wie eine “neue Menschheit” entstehen kann, nachdem der Kapitalismus mit seinem “Immer-Mehr” an seine Grenzen gestoßen ist. Er verweist auf die “indigene Kritik” von David Graeber und David Wengrow und thematisiert die ethischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz.

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Die Alternative zum kapitalistischen “Weiter so!” sieht Staab in einer individuellen und kollektiven adaptiven Lebensführung. Er spricht sich für eine “protektive Technokratie” aus, die sich aus der Wahrnehmung realer Selbsterhaltungsprobleme ergibt und mit dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation bricht. Dabei betont er, dass diese Technokratie nicht als Bedrohung der Freiheit, sondern als Instrument zu deren Entfaltung verstanden werden muss.

Fazit: Anpassung als Schlüssel zur Zukunftsgestaltung

Philipp Staabs Studie “Anpassung” bricht mit der Vorstellung, dass die Entwicklung der Welt automatisch zu einer Verbesserung führt. Er mahnt, dass es heute vielmehr darum gehen muss, die drohende Katastrophe abzumildern – nicht durch Fatalismus, sondern durch ein kritisches, angepasstes und wissenschaftlich fundiertes Bewusstsein. Die Anpassung, verstanden als aktive Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit, ist somit der Schlüssel zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft.