Politiker stehen oft vor der Herausforderung, unangenehme Tatsachen zu beschönigen. Doch manchmal ist Ehrlichkeit der bessere Weg. So geschehen in Finnland, als Staatssekretärin Anita Lehikoinen im Bildungsministerium eingestand: „Wir sind nicht länger das Land mit der besten Bildung. Unsere jungen Menschen sind nicht mehr die schlausten.“ Diese Aussage, basierend auf den Ergebnissen einer Studie ihres Ministeriums, löste eine landesweite Debatte über die Probleme im finnischen Schulsystem aus.
Für viele Beobachter, insbesondere in Deutschland, mag diese Diskussion überraschend erscheinen. Schließlich gilt das finnische Schulsystem weltweit immer noch als eines der besten, wenn nicht sogar als das beste Schulsystem. Dieser Ruf gründet auf den hervorragenden Ergebnissen finnischer Schüler in der PISA-Studie der OECD.
PISA-Studie
Die erste Veröffentlichung der internationalen Vergleichsstudie im Jahr 2001 sorgte in Deutschland aufgrund der mittelmäßigen Ergebnisse deutscher Schüler für heftige Diskussionen und in einigen Bundesländern zu Reformen. Finnland hingegen wurde als “Testsieger” gefeiert. Die Schüler erzielten überdurchschnittliche Ergebnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. Bildungsexperten aus aller Welt reisten daraufhin nach Finnland, um das Erfolgsgeheimnis der finnischen Schulen zu lüften.
Doch der Schein trügt.
Der Abstieg eines Vorbilds
Trotz des globalen Renommees gilt das finnische Schulsystem intern als Problemfall. “Die Leistungen des finnischen Schulsystems verfallen seit 20 Jahren, und der Abstieg hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt”, erklärt Jaakko Salo, Leiter des Bereichs Bildungspolitik bei der finnischen Lehrergewerkschaft OAJ. “Das sieht man deutlich in den nationalen Evaluationen, aber auch im internationalen PISA-Vergleich. Egal ob Lesen, Schreiben oder Mathematik, das Bild ist überall das gleiche.”
Diese Einschätzung wird von internationalen Experten geteilt. “Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich. Diesen Trend beobachten wir in den internationalen Vergleichsdaten seit einigen Jahren, und er betrifft alle Leistungsbereiche”, bestätigt Andreas Schleicher, der Bildungsforscher, der die PISA-Studie koordiniert.
“Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich.”
Andreas Schleicher, Bildungsforscher
Die OECD-Daten zeigen, dass das durchschnittliche Kompetenzniveau in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften seit der Jahrtausendwende sinkt. Gleichzeitig nimmt der Anteil leistungsstarker Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften ab, während der Anteil leistungsschwacher Schüler kontinuierlich steigt. Finnische Studien sprechen davon, dass Schüler in den vergangenen Jahrzehnten das Leistungsäquivalent von ein bis zwei Schuljahren verloren haben.
Blick in den Rückspiegel
“Die finnischen PISA-Ergebnisse, die die ganze Welt beeindruckt haben, waren tatsächlich ein Blick in den Rückspiegel und haben von Anfang an ein falsches Bild vom Zustand des Schulsystems gezeichnet”, so Bildungsexperte Salo. “Als die tollen PISA-Ergebnisse damals direkt nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden, befand sich das finnische Schulsystem bereits im Abstieg.” Es ist wichtig, die zukunft digitale bildung nicht zu vergessen.
Finnland
alt: Finnlands Landschaft mit Seen und Wäldern im Sonnenschein
Studien zufolge ist die am besten ausgebildete Altersgruppe in Finnland die Generation, die Mitte der 1990er-Jahre die Schule abgeschlossen hat. Nachfolgende Generationen haben dieses Bildungsniveau nicht mehr erreicht.
Die Gründe für die Krise des finnischen Bildungssystems sind vielfältig.
Migration und Integration
Ein Faktor ist die Migration und die damit verbundene zunehmende Vielfalt der Schülerschaft. Die nordischen Staaten waren von der Migration nach 2015 stärker betroffen als Deutschland. “Die Flüchtlingsmigration hat das finnische Schulsystem überrascht”, erklärt Schleicher. “Es hatte zum einen nicht die nötigen Kapazitäten, zum anderen kamen dazu Sprachprobleme und der andere kulturelle Hintergrund. Das hat Finnland kalt erwischt.”
Die schulische Integration von Migrantenkindern stellt auch Deutschland vor Herausforderungen. Schleicher betont, dass Deutschland von Ländern wie Kanada oder Norwegen lernen kann, die in diesem Bereich positive Erfahrungen gemacht haben. Jedoch warnt er vor überzogenen Erwartungen. “Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig; ich kenne kein Land, das damit besonders gut umgehen kann”, sagt Schleicher. Kanada leiste bei der Bildungsintegration fantastische Arbeit. Es ist wichtig, bildung und integration zu fördern.
“Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig.”
Andreas Schleicher, Bildungsforscher
Gescheiterte Reformen
Eine weitere Ursache der finnischen Misere liegt in einer ambitionierten und überstürzten Reform der finnischen Lehrpläne. Das Bildungsministerium vollzog eine radikale Wende vom Unterricht mit festen Lehrinhalten hin zum “Phänomen-basierten Lernen”. Anstelle von einzelnen Schulfächern unterrichten die Lehrer Themenkomplexe, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen betrachtet werden.
“Auf das Phänomen-basierte Lernen war das finnische Schulsystem nicht richtig vorbereitet”, so Schleicher. Inzwischen wird gegengesteuert, und die Lehrpläne orientieren sich wieder mehr am traditionellen Lernen.
Schule
alt: Kinder sitzen aufmerksam in einem Klassenzimmer in Finnland
Ungleichheit und Kürzungen
Auch die Chancengleichheit im finnischen Schulsystem hat in den vergangenen Jahren abgenommen – ein schmerzlicher Befund für ein Land, das traditionell Wert auf soziale Gerechtigkeit legt. Ein Grund dafür sind geringere Bildungsausgaben. Infolge der finnischen Banken- und Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren kürzte die Regierung die Bildungsausgaben drastisch. “Die Bildungsausgaben sind um ein Viertel gefallen und haben nie wieder das vorangegangene Niveau erreicht”, sagt Regierungsberater Aleksi Kalenius.
Die Folge sind fehlende Mittel für teure individuelle Förderung. “Jetzt haben wir einige Kinder, die aus der Grundschule kommen und weder schreiben, lesen noch rechnen können”, sagt OAJ-Experte Salo. “Das war noch vor 15 Jahren undenkbar.”
Fazit: Ein Weckruf für Deutschland?
Die Entwicklung in Finnland sollte Deutschland als Warnung dienen. Ein vermeintlich Bestes Schulsystem kann schnell ins Wanken geraten, wenn die Herausforderungen der Zeit nicht erkannt und bewältigt werden. Migration, gescheiterte Reformen und Kürzungen im Bildungsbereich können die Qualität des Bildungssystems nachhaltig beeinträchtigen. Es ist daher entscheidend, die richtigen Weichen zu stellen und in Bildung zu investieren, um auch in Zukunft eine hochwertige Ausbildung für alle Kinder zu gewährleisten. Die Diskussionen rund um bildung und integration sind hierbei von zentraler Bedeutung.