Das Nordseeküstenland Niedersachsen ist nicht nur für seine malerischen Strände und seine raue Schönheit bekannt, sondern auch für einzigartige traditionelle Sportarten. Unter diesen nehmen das Boßeln und sein historischer Vorläufer, das Klootschießen, eine besondere Stellung ein. Diese faszinierenden Disziplinen, tief verwurzelt in der friesischen Kultur, bieten ein spannendes Erlebnis und sind ein integraler Bestandteil des regionalen Erbes. Wer die Authentizität Deutschlands erleben möchte, sollte sich diese Sportarten nicht entgehen lassen.
Die Faszination des Klootschießens: Ein Blick in die Geschichte
Das Klootschießen ist eine Sportart, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen und die vermutlich aus prähistorischen Wurf- und Verteidigungswaffen der Friesen hervorgegangen ist. Der Begriff “Kloot” leitet sich vom niederdeutschen Wort “Kluten” ab, was umgangssprachlich für Erdklumpen steht. Ursprünglich wurden tatsächlich solche Erdklumpen verwendet, die sich durch ihre Zusammenhaltbarkeit auszeichneten. Später entwickelten sich die Wurfgeräte weiter und wurden durch eiserne Kugeln ersetzt, die bis zu zwei Pfund wiegen konnten. Mit der zunehmenden Verbreitung des Klootschießens als Sport fanden fistengroße Kugeln aus Apfelholz Verwendung. Um das Gewicht zu erhöhen, wurden diese Holzkugeln durchbohrt und die entstehenden Hohlräume mit Blei gefüllt.
Klootshooting – recreational sport, historically older than Boßeln!
Wurfweiten von über 100 Metern
Heutige Freizeitsportler können ihre Kloots mit beeindruckenden Weiten von bis zu 100 Metern werfen. Der aktuelle Rekord liegt sogar bei 106,20 Metern, aufgestellt von Stefan Albarus aus dem Norden. Diese beeindruckenden Distanzen verdeutlichen, warum diese Geschosse in der Vergangenheit eine gefürchtete Waffe darstellten.
Es existieren zwei grundlegend verschiedene Varianten dieser Sportart: der Feldkampf und der Standkampf.
Der Feldkampf: Tradition und Ausdauer
Der Feldkampf, der traditionell bei frostigem Wetter ausgetragen wird, ist die verbreitetere Form des Klootschießens. Zwei Teams treten gegeneinander an, wobei der Kloot über Felder und Wiesen über eine Distanz von etwa sieben Kilometern geworfen werden muss. Im Gegensatz zum Standkampf wird beim Feldkampf die Rolle des “Trull” gezählt, also die Entfernung, die der Kloot nach dem Abprallen noch zurücklegt. Jedes Team besteht aus mehreren Werfern, die abwechselnd werfen und gegeneinander antreten. Der Punkt, an dem die Klootkugel nach dem Ausrollen zur Ruhe kommt, markiert den nächsten Abwurfpunkt.
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Der Standkampf: Kraft und Präzision
Beim Standkampf treten alle Teilnehmer gegeneinander an. Der Sieger ist derjenige Werfer, der die größte Distanz erzielt. Hierbei wird der “Trull” nicht gezählt, sondern lediglich die tatsächlich geworfene Distanz. Der Standkampf wird oft von Vereinen für Meisterschaften genutzt, da die Klootschießerbahn auf einem normalen Sportplatz oder einer Weide eingerichtet werden kann.
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Der Ruf der Klootschießer: “Lüch up un fleu herut!”
Das Klootschießen hat eine jahrhundertealte Geschichte, deren genauer Entstehungszeitpunkt unbekannt ist. Die Wurftechnik wird als anspruchsvoll beschrieben und erfordert viel Geschwindigkeit, Kraft und Konzentration. Sie besteht darin, die Arme so zu rotieren, dass der Kloot von unten kommend so weit wie möglich geschleudert wird. Nicht umsonst lautet der aufmunternde Ruf der Klootschießer “Lüch up un fleu herut” – was so viel bedeutet wie “Heb dich hoch und flieg weit!”.
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Boßeln: Die moderne Weiterentwicklung
Das Boßeln ist heute wohl die bekanntere und weiter verbreitete der beiden Sportarten und wird oft als die “kleine Schwester” des Klootschießens betrachtet. Hierbei wird eine Kugel (der “Boßel”) eine vorgegebene Strecke hinuntergeworfen. Ziel ist es, mit möglichst wenigen Würfen das Ende der Strecke zu erreichen. Im Gegensatz zum Klootschießen, wo die Wurftechnik im Vordergrund steht, ist beim Boßeln die strategische Planung und das Einschätzen der Bahn entscheidend.
Boßeln als soziales Ereignis
Boßeln ist mehr als nur ein sportlicher Wettkampf; es ist ein wichtiges soziales Ereignis. Oftmals treffen sich Vereine oder Gruppen, um in geselliger Runde die “Boßelstrecke” zu absolvieren. Nach dem sportlichen Teil wird das Ereignis häufig bei einem gemeinsamen Essen oder einem kühlen Getränk ausklingen gelassen. Dies macht das Boßeln zu einer perfekten Möglichkeit, das authentische deutsche Lebensgefühl abseits der bekannten Touristenpfade zu erleben.
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Historische Herausforderungen und Gefahren
In der Geschichte gab es auch immer wieder mit den traditionellen Wurfsportarten verbundene gravierende Begleiterscheinungen. Über die Jahrhunderte hinweg versuchten Autoritäten wiederholt, diese Sportarten zu verbieten – jedoch ohne Erfolg. Insbesondere der Winter stellte eine besondere Herausforderung dar. Mangels geeigneter Sportkleidung trugen die Aktiven meist nur Unterwäsche, was bei Kälte schnell zu Lungenentzündungen führen konnte. Der häufige Konsum von starkem Alkohol, um sich aufzuwärmen, führte zu fehlerhaften Würfen und nachfolgend zu Streitigkeiten, die früher oft blutig endeten.
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Entdecken Sie die norddeutsche Kultur
Das Boßeln und Klootschießen sind nicht nur sportliche Aktivitäten, sondern lebendige Traditionen, die einen tiefen Einblick in die norddeutsche Kultur und Geschichte gewähren. Wer Deutschland auf eine besondere Weise erleben möchte, dem sei ein Besuch in Ostfriesland oder den angrenzenden Regionen empfohlen. Hier haben Sie die Möglichkeit, entweder als Zuschauer diese faszinierenden Sportarten zu erleben oder sich sogar selbst auf die “Boßelstrecke” zu begeben und ein Stück gelebter Tradition mitzugestalten.