Der Bürgerrat Bildung Und Lernen hat eine Reihe umfassender Empfehlungen vorgelegt, um das Bildungssystem in Deutschland zukunftsfähig zu gestalten. Mit 19 konkreten Vorschlägen zielt diese Initiative darauf ab, Chancengerechtigkeit zu fördern und die Bildungslandschaft von der frühkindlichen Phase bis zur beruflichen Ausbildung nachhaltig zu verbessern. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie viel Freiheit das Lernen braucht, um Kinder und Jugendliche bestmöglich auf ihre Zukunft vorzubereiten und gleichzeitig Bildungseinrichtungen mehr Autonomie zu ermöglichen.
Diese weitreichenden Vorschläge des Bürgerrats Bildung und Lernen umfassen entscheidende Bereiche wie die Leistungsbewertung, die Rolle von Hausaufgaben, die Mitbestimmung von Schülern und die Attraktivität des Lehrerberufs. Die Initiative, die aus einem Querschnitt der deutschen Bevölkerung besteht, hat sich zum Ziel gesetzt, langfristige Veränderungen in der gesamten Bildungskette anzustoßen.
Junge Teilnehmer des Bürgerrats Bildung und Lernen in Leipzig während einer Diskussionsrunde
Noten, Hausaufgaben & Prüfungen: Für ein Lernen ohne unnötigen Druck
Ein zentrales Anliegen des Bürgerrats Bildung und Lernen ist die Neugestaltung der Leistungsbewertung und des Lernalltags. Die Empfehlungen hierzu versprechen eine Entlastung der Schülerinnen und Schüler und eine stärkere Fokussierung auf individuelles Lernen.
Neudefinition der Leistungsbewertung
Eine der markantesten Empfehlungen ist die Einführung von Noten erst ab der neunten Klasse. Zuvor soll ein individuelles Lern-Feedback die herkömmliche Zensurenvergabe ersetzen. Dieser Vorschlag fand mit 77 Prozent eine breite Zustimmung unter den Bürgerratsmitgliedern. Ziel ist es, den Druck frühzeitig zu reduzieren und stattdessen eine lernbegleitende Rückmeldung zu geben, die auf die Stärken und Entwicklungsfelder jedes Kindes eingeht. Dies soll Chancengleichheit und die individuelle Lernverantwortung stärken, indem es Schülern ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo zu lernen und sich zu entwickeln.
Hausaufgaben adé, Vertiefungsstunden willkommen
Ebenfalls revolutionär ist der Vorschlag zur Abschaffung von Hausaufgaben. Mit 71 Prozent Zustimmung sollen diese durch “Vertiefungsstunden” ersetzt werden. Diese Maßnahme soll nicht nur die Nachmittage der Kinder entlasten, sondern auch eine gezieltere Unterstützung und Vertiefung des Lernstoffes innerhalb der Schulzeit ermöglichen. Der Bürgerrat erhofft sich dadurch eine Förderung der Lernfreiheit und eine weitere Verbesserung der Chancengerechtigkeit, da alle Schüler Zugang zu denselben Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten hätten, unabhängig vom Elternhaus.
Flexible Prüfungsformate für individuelle Stärken
Der Bürgerrat Bildung und Lernen fordert eine deutliche Ausweitung der Entscheidungsfreiheit bei Leistungsnachweisen. Im Beschlusstext heißt es: „Schüler*innen können in einer von den Lehrer*innen gewählten Zeitspanne die Leistungsnachweise erbringen (betrifft nicht die zentralen Nachweise). Uns ist es wichtig, Chancengleichheit in Bezug auf unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten zu gewähren. Wir wollen, dass auch die Form der Prüfung (z. B. Klausur, Vortrag, Projekt) frei wählbar ist. Die Leistungsnachweise werden außerhalb der regulären Schulstunden erbracht. Zentrale Prüfungen (z. B. Abitur) bleiben davon unberührt. Dadurch lernen Schüler*innen, ihre Zeit selbstverantwortlich einzuteilen und Verantwortung für ihre Leistungen zu übernehmen. Somit hängen Leistungsnachweise nicht von der jeweiligen Tagesform ab. Gleichzeitig werden unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten berücksichtigt.“ Dieser Ansatz soll nicht nur die vielfältigen Talente der Lernenden besser abbilden, sondern auch eine fairere Bewertung ermöglichen, die nicht von der Tagesform abhängt.
Stärkung der Lernenden und Lehrenden: Mitbestimmung und Attraktivität
Um ein effektives und motivierendes Lernumfeld zu schaffen, beleuchtet der Bürgerrat Bildung und Lernen auch die Rollen von Schülern und Lehrern im Bildungssystem.
Schüler als Mitgestalter des Lehrplans
Mit 79 Prozent Zustimmung plädiert der Bürgerrat für eine stärkere Mitgestaltungsfreiheit der Schülerinnen und Schüler bei den Lehrinhalten. Dies soll die Motivation der Kinder und Jugendlichen signifikant steigern, da sie Inhalte mitgestalten können, die ihren Interessen und Lernbedürfnissen entsprechen. Die Entscheidungsfreiheit der Schüler soll dabei mit zunehmendem Alter steigen, um sie sukzessive an mehr Eigenverantwortung heranzuführen.
Attraktiver Lehrerberuf und individuelle Förderung
Um dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken, fordert der Bürgerrat Bildung und Lernen eine umfassende Attraktivitätssteigerung des Lehrerberufs. Kleinere Lerngruppen werden als essenziell erachtet, um individuelle Förderung zu ermöglichen und auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers einzugehen. Darüber hinaus sollen Lehrkräfte durch Mentor*innen und Praktiker*innen unterstützt und entlastet werden, um ihnen mehr Raum für ihre pädagogischen Kernaufgaben zu geben und Burnout vorzubeugen.
Demokratiebildung als Fundament
Ein nahezu einstimmiger Konsens (87 Prozent Zustimmung) besteht in der Notwendigkeit, die Demokratiebildung in Schulen zu verbessern. Schulen sollen zu Orten werden, an denen demokratische Grundwerte wie Toleranz, Ehrlichkeit, Respekt und eine offene Gesprächskultur aktiv gelebt werden. Kinderrechte, basierend auf dem Grundgesetz, sollen fester Bestandteil des Schulkonzepts sein. Der Klassenrat wird als zentrale Plattform vorgeschlagen, um Gesprächskultur, Mitbestimmung und faktenbasiertes Argumentieren altersgerecht zu üben und Kinder frühzeitig in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Von der Kita bis zur Berufswelt: Ganzheitliche Bildungsansätze
Der Blick des Bürgerrats Bildung und Lernen reicht über die allgemeinbildenden Schulen hinaus und schließt die frühkindliche sowie die berufliche Bildung mit ein.
Frühe Förderung: Kita-Pflicht für bessere Chancen
Im Bereich der frühkindlichen Bildung sprechen sich die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich für mehr Mitbestimmung für Kita-Kinder (67 Prozent) und eine zweijährige Kita-Pflicht (88 Prozent) aus. Die Begründung für die Kita-Pflicht ist eindeutig: „Die Bürgerräte sehen gute Sprachkenntnisse als Grundlage für die Teilhabe am sozialen Leben und den gesamten Bildungsweg. Im Spiel und durch Interaktion lernt das Kind automatisch und zwanglos. Voraussetzung dafür ist eine Kita-Pflicht in den letzten beiden Jahren vor der Einschulung.“ Diese frühzeitige und spielerische Förderung soll eine solide Basis für den gesamten Bildungsweg legen und soziale Ungleichheiten mindern.
Berufliche Orientierung und Integration
Auch der Übergang von der Schule ins Berufsleben wurde intensiv diskutiert. Eine überwältigende Mehrheit von 96 Prozent stimmte dafür, Berufsorientierungswochen für alle Jugendlichen einzuführen. Zusätzlich sollen Jugendliche ohne Schulabschluss bessere Berufschancen erhalten (88 Prozent Zustimmung), um ihre Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und somit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Der Bürgerrat Bildung und Lernen: Ein Modell demokratischer Teilhabe
Die Arbeit des Bürgerrats Bildung und Lernen ist ein beeindruckendes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement und demokratische Innovation.
Stimmen aus dem Bürgerrat
Sabirya Ekinci, Straßenbahnfahrerin aus Hannover und seit vier Jahren im Bürgerrat aktiv, zeigte sich stolz: „Ich denke, wir können wirklich stolz sein auf das, was wir geleistet haben und auf die Vorschläge, die wir gemeinsam formuliert haben. Natürlich waren die Diskussionen teilweise auch hart, aber nun können wir sagen, wir haben etwas entwickelt, das wir guten Gewissens präsentieren können.“ Auch Felix Voss, Student aus Leipzig und Bürgerratsmitglied der ersten Stunde, äußerte einen wichtigen Wunsch: „Nun wünsche ich mir, dass unsere Arbeit auch gesehen und ernst genommen wird.“
Aufbau und Arbeitsweise des Bürgerrats
Der Bürgerrat setzt sich aus 700 zufällig ausgewählten Menschen aus ganz Deutschland zusammen, die einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Die finalen Entscheidungen über die Empfehlungen wurden im November 2024 von rund 120 Bürgerratsmitgliedern getroffen, darunter auch 20 Schülerinnen und Schüler des Jungen Bürgerrats. Ihre Stimmen flossen maßgeblich in die Vorschläge ein, insbesondere beim Thema “individuelles und lebensnahes Lernen”, das 97 Prozent Zustimmung erhielt. Im nächsten Schritt werden die Empfehlungen an die Kultus- und Bildungsministerien übergeben, bevor eine Abschlusskonferenz Ende 2025 geplant ist.
Die Rolle der Montag Stiftung Denkwerkstatt
Ins Leben gerufen und begleitet wird der Bürgerrat Bildung und Lernen von der unabhängigen und gemeinnützigen Montag Stiftung Denkwerkstatt in Bonn. Ursprünglich auf drei Jahre angelegt, wurde das Projekt bis Ende 2025 verlängert. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Stiftung und Initiator des Bürgerrats, begründet dies: “Die Verantwortungsunschärfe beim dringenden Veränderungsbedarf zwischen Bund, Ländern und Kommunen erfordert viel Zeit, um in den Beratungen dafür zielgenaue Empfehlungen zu erarbeiten. Hinzu kommt, Veränderungen in der Bildungspolitik in Deutschland brauchen einen langen Atem.“
Respektvoller Diskurs und demokratische Legitimität
Die Entscheidungsprozesse waren intensiv, geprägt von zahlreichen Diskussionsrunden, in denen Standpunkte abgeglichen und mehrheitsfähige Ideen erarbeitet wurden. Obwohl die Vorstellungen über das Ausmaß an Freiheit und Vorgaben in der Bildung zum Teil weit auseinandergingen, betont Sabine Milowan, Projektleiterin und Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt: „Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat intensiv um seine Positionen gerungen und engagiert um Mehrheiten gestritten. Aber egal, welchen Alters, welcher Herkunft oder welchen Geschlechts – die Diskussionen verliefen immer respektvoll, auch wenn die Meinungen zum Teil weit auseinandergingen.“ Sie sieht den Bürgerrat als wichtigen Beitrag zur lebendigen Demokratie in Deutschland und fordert die Politik auf, diese wertvollen Impulse aufzugreifen.
Fazit: Ein Weckruf für Deutschlands Bildungspolitik
Die 19 Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen stellen einen ambitionierten und detaillierten Fahrplan für die Zukunft des deutschen Bildungssystems dar. Sie spiegeln den Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger nach einem gerechteren, flexibleren und schülerzentrierteren Lernen wider. Von der Abschaffung der Noten in den unteren Klassen bis zur Stärkung der beruflichen Orientierung – die Vorschläge umfassen die gesamte Bildungskette und bieten konkrete Ansatzpunkte für eine nachhaltige Reform.
Die Politik ist nun gefordert, diese sorgfältig erarbeiteten und breit getragenen Impulse ernst zu nehmen und in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Es ist eine Chance, das Bildungssystem in Deutschland mutig zu erneuern und den kommenden Generationen die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft zu bieten.
Referenzen:
- Vollständige Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen: https://www.buergerrat-bildung-lernen.de/freiheit/
- Berichterstattung News4teachers: https://www.news4teachers.de/2024/11/buergerrat-bildung-und-lernen-fordert-wissensdurst-wecken-durch-individuelles-lebensnahes-lernen/