Jakob von Uexküll: Umwelt und die faszinierende Welt der Lebensformen

Biologische Weltanschauung

Jakob von Uexküll, ein deutschsprachiger Biologe aus Estland, hat mit seinem Konzept der “Umwelt” ein faszinierendes Fenster zur Erforschung der Lebenswelt geöffnet. Seine Theorien, die wissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischen Überlegungen verbinden, laden dazu ein, die Welt aus den Augen verschiedenster Lebewesen zu betrachten. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff, und welche tiefgreifenden Konsequenzen hat seine Denkweise für unser Verständnis von Realität und unserem Platz darin? Die Auseinandersetzung mit “Jakob Von Uexküll Umwelt” verspricht eine Reise in die subtilen Nuancen der Wahrnehmung und die Einzigartigkeit jeder Existenz.

Die Bedeutung der Umweltschutz im Alltag mag uns vertraut sein, doch die von Uexküll beschriebenen Umwelten sind von einer gänzlich anderen, individuellen Natur. Er postulierte, dass jedes Lebewesen seine eigene, einzigartige Welt der Erfahrung bewohnt, die maßgeblich von seiner Spezies, seiner Physiologie und seinem Verhalten geprägt wird. Diese individuellen “Umwelten” sind nicht direkt zugänglich und werfen grundlegende Fragen über die Objektivität von Wissen und die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis auf.


Die Provokation der Umwelt: Mehr als nur ein biologisches Konzept

Uexkülls Gedanken stellen eine dreifache Provokation dar, die bis heute nachwirkt:

  1. Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis: Er vertrat die Ansicht, dass die Erlebniswelt jedes Lebewesens für die wissenschaftliche Forschung unzugänglich ist. Dies steht im Widerspruch zum grenzenlosen Optimismus, der aus jahrhundertelangen technologischen Erfolgen und kultureller Dominanz in der Wissenschaft entstanden ist. Die Idee, dass es Aspekte der Realität gibt, die sich einer rein messbaren und beobachtbaren Analyse entziehen, war und ist für viele eine Herausforderung.
  2. Kein privilegierter Zugang zur Wahrheit: Uexküll argumentierte, dass keine dieser Umwelten einen höheren metaphysischen Status hat als die anderen. Da wir Menschen, einschließlich der Wissenschaftler, selbst Lebewesen sind, bietet die Welt, die wir erleben und untersuchen, keinen exklusiven Zugang zu einer objektiven, von unserem Bewusstsein unabhängigen Wahrheit. Dies untergräbt die Vorstellung einer universellen, für alle gleichermaßen gültigen Realität.
  3. Das Rätsel des individuellen Erlebens: Die Annahme, dass jedes menschliche Individuum eine eigene, private phänomenale Welt erlebt und niemals die Umwelt eines anderen vollständig erschließen kann, hat viele Denker zutiefst beunruhigt. Diese Vorstellung des “phänomenalen Individualismus” birgt weitreichende soziale und moralische Implikationen, die in der Philosophie intensiv diskutiert werden.

Die philosophische Rezeption von Uexkülls Ideen, insbesondere in Frankreich und Deutschland, hat eine Vielzahl von Strategien hervorgebracht, um sich von dieser Sichtweise und den befürchteten Konsequenzen zu distanzieren. Dennoch sind diese Provokationen bis heute nicht vollständig aufgelöst, was das anhaltende wissenschaftliche Interesse an Uexkülls Werk erklärt.

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Von der Biologie zur Philosophie: Uexkülls Entwicklung

Jakob von Uexküll (1864-1944) war ein Biologe, der in Estland lebte und forschte. Seine Arbeit konzentrierte sich auf das Verhalten und die Physiologie von Meerestieren. Ursprünglich verfolgte er einen mechanistischen Ansatz in der Biologie, sah sich aber durch seine eigenen Forschungsergebnisse und intellektuelle Einflüsse, wie den Neovitalismus von Hans Driesch, dazu veranlasst, diese Sichtweise zu überdenken. Drieschs Entdeckung, dass ein zweigeteiltes Seeigel-Embryo zu zwei vollständigen Tieren heranwächst, diente ihm und Uexküll als Beweis dafür, dass Tiere keine reinen Maschinen sind.

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Uexküll lehnte vehement die vorherrschende Meinung ab, dass Organismen lediglich hochkomplexe Maschinen seien. Stattdessen betonte er, dass jedes Lebewesen ein Subjekt und ein Akteur ist, der seine eigene, einzigartige phänomenale Welt – seine Umwelt – durch seine körperlichen Prozesse und seine Interaktionen mit der Umwelt erschafft. Sein Werk lässt sich als “Bausteine für eine biologische Weltanschauung” beschreiben, das über eine rein wissenschaftliche Darstellung hinausgeht, aber aufgrund mangelnder philosophischer Ausbildung und Stringenz kein vollständiges philosophisches System darstellt.

Die Schwierigkeiten bei der Lektüre von Uexkülls Schriften ergeben sich weniger aus der Klarheit seiner Sprache als vielmehr aus der entscheidenden Unterscheidung zwischen zwei Perspektiven: der “Außenansicht” des Wissenschaftlers, der beobachtet und misst, und der “Innenansicht”, dem subjektiven Erleben jedes Lebewesens. Während die Außenansicht von einer einzigen Welt ausgeht, gibt es aus der Innenansicht so viele Welten wie lebende Subjekte. Der Begriff “Umwelt” wird in beiden Diskursen verwendet, fungiert aber je nach Kontext sehr unterschiedlich.


Umwelt als Zeichenprozess und die Geburt der Biosemiotik

Durch seine wissenschaftliche Untersuchung von Tieren entwickelte Uexküll eine bahnbrechende Methode, um tierisches Verhalten im Sinne von Zeichenprozessen zu verstehen. Er unterschied zwischen der Umwelt eines Tieres, wie sie vom Forscher wahrgenommen wird, und den Faktoren, die für das Tier selbst relevant und wahrnehmbar sind. Wenn diese Faktoren den Sinnesapparat des Tieres stimulieren, werden sie vom Nervensystem in Zeichen umgewandelt. Einfache Zeichen für Ort und Position werden zu komplexeren Objektzeichen synthetisiert und nach außen projiziert, um die Umwelt des Tieres zu bilden.

Dieser Prozess, der zum subjektiven Erleben führt, generiert sowohl die Wahrnehmungsobjekte als auch den Raum, in dem sie begegnet werden. Für Uexküll besteht diese Umwelt aus Wahrnehmungs- und Handlungsschildern, was bedeutet, dass Objekte direkt als bestimmte Handlungsmöglichkeiten für das Subjekt wahrgenommen werden. Diese Erkenntnis beeinflusste die Gestaltpsychologie und wurde später unter dem Namen “Affordances” (Angebote) zentral für die ökologische Psychologie. Uexkülls Ansatz, biologische Phänomene als Zeichenprozesse zu interpretieren, inspirierte später die Entstehung der Biosemiotik als eigenständiges Forschungsfeld.

Aus der Perspektive des Tieres besteht die Umwelt jedoch nicht aus Zeichen, sondern aus Objekten und Ereignissen. Man nimmt eine Blume wahr, nicht das Zeichen einer Blume. In diesem Sinne beschreibt Umwelt einen Strom bewusster Erfahrung, eine Art “Realitätstunnel”, das Rohmaterial für eine phänomenologische Untersuchung. Da wir jedoch Erfahrung benötigen, um sie zu untersuchen – anstatt ihre Verhaltenskorrelate zu erforschen –, sind unsere Beschreibungen der phänomenalen Umwelten anderer Tiere stets spekulativ. Dies zeigt sich, wenn Uexküll seine poetische Vorstellungskraft bei der Beschreibung der Umwelten von Bienen, Zecken oder Vögeln einsetzt. Unsere Wissenschaft gibt uns Hinweise auf die wahrscheinliche Struktur dieser Welten, doch wir können sie niemals selbst erfahren.

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Konstruktion oder Selektion? Uexkülls Weltanschauung und ihre Grenzen

Das Konzept der Umwelt erfüllt eine doppelte Funktion: einerseits die empirische Untersuchung von Verhalten und Physiologie, andererseits eine spekulative und kreative Vorstellung von Welten, die radikal anders sind als unsere. Dies führt zu zwei häufigen Meinungsverschiedenheiten: Ist Umwelt eine Konstruktion oder eine Selektion?

Bei der Verhaltensforschung ist es sinnvoll, Umwelt als eine Menge von Merkmalen zu betrachten, die aus einer Umgebung von den physiologischen Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Handlung einer bestimmten Spezies “selektiert” werden. Geht es jedoch um subjektive Erfahrung, ist dies nicht sinnvoll, da nach Uexküll nur Individuen Erfahrung haben, und Erfahrung nicht einfach in der physischen Welt gefunden und “selektiert” werden kann. Uexkülls Ansatz ist vielmehr konstruktivistisch, explizit an Kant angelehnt. Er sah sich als Erweiterer von Kants Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in zweierlei Hinsicht: 1) die Rolle des Körpers und 2) die Subjektivität nicht-menschlicher Tiere.

Seine Methodik ist jedoch nicht rein kantianisch. Anstelle einer reinen Form der Anschauung schloss Uexküll, dass unsere räumliche Erfahrung durch die drei halbkreisförmigen Bogengänge im Innenohr ermöglicht wird. Diese ermöglichen uns, Kopfbewegungen wahrzunehmen und dadurch die dreidimensionalen Räume unserer Umwelten zu erfahren.

Darüber hinaus entwickelte Uexküll eine ganzheitliche Sicht der Natur als sinnhafte Totalität, die stark von Goethe beeinflusst war. Da er Darwins Evolutionstheorie ablehnte, benötigte Uexküll eine alternative Erklärung für das scheinbar perfekte Zusammenspiel der Natur. Auf der Grundlage einer musikalischen Metapher schuf er die Vision einer Natur als großes, bedeutungsvolles Ganzes, das aus Melodien, Harmonien und Kontrapunkten zwischen der Morphologie und dem Verhalten von Beute und Jäger besteht. Diese Ansicht hat deutliche Anklänge an Romantik, Organismus und Pantheismus.


Die dunkle Seite der Totalität: Uexkülls politische Ansichten

Uexküll erweiterte seine ganzheitlichen Verpflichtungen und die Ablehnung von Veränderung in seiner antievolutionistischen Haltung zu einer tief-totalitären organischen politischen Theorie. Dies bildet einen scharfen Kontrast: Einerseits scheint das Konzept der Umwelt unsere Sicht auf die Welt, in der wir leben, zu erschüttern und uns eine nicht-anthropozentrische Vielfalt von Welten anstelle einer einzigen, objektiven, wissenschaftlichen Darstellung zu bieten. Andererseits drückt Uexkülls Betrachtung des Staates als Organismus, die er im Aufstieg der Nationalsozialisten bestätigt und verwirklicht sah, eine zutiefst reaktionäre und unterdrückende Vision aus, in der jedes Individuum dem totalitären Staat vollständig untergeordnet ist. Es ist wichtig zu bedenken, dass Staaten keine buchstäblichen Organismen sind, daher ist Uexkülls Verwendung seiner biologischen Ansichten zur Entwicklung einer Staatslehre nicht nur politisch, sondern auch intellektuell problematisch.

Die Idee, Gesellschaften und Staaten mit Organismen zu vergleichen, ist ein gängiges reaktionäres Motiv, das mindestens bis zum römischen Konsul Agrippa Menenius Lanatus zurückreicht. Wenn wir diesen Vergleich ablehnen, hat Uexkülls Naturbetrachtung keine direkte Relevanz für das politische Denken. Die Frage nach der Nachhaltigkeit und Umwelt in einem politischen Kontext wird durch solche organisch-totalitären Ansichten komplex.

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Das Erbe von Uexküll: Offene Fragen und anhaltende Relevanz

Die offene Frage für uns heute ist, wie genau wir Uexküll lesen wollen und was wir aus seinem Werk mitnehmen können. Einige Kommentatoren loben das Potenzial seiner Gedanken, Debatten über die Natur des Lebens und des Geistes zu beleben, während andere vor seinen Gefahren warnen, da sie Uexkülls totalitäre Politik als integralen und untrennbaren Aspekt seines gesamten Schaffens betrachten. Diese unterschiedlichen Lesarten von Uexkülls Werk haben jedoch gemeinsam, dass sie unvollendet und andauernde Projekte sind. Kurioserweise hat die Rezeption seines Werkes, obwohl es in verschiedene Richtungen weiterentwickelt wurde, viele neue Fragen aufgeworfen, aber nur sehr wenige Antworten geliefert.

Die historische Rezeption in der Philosophie hat sich hauptsächlich darauf konzentriert, seine Behauptung zu widerlegen, dass die Umwelten von Menschen individuell und geschlossen seien. In der Wissenschaft hat sich die Rezeption seiner Ideen auf die Isolierung bestimmter nützlicher Teile seines Denkens für die Verhaltensforschung konzentriert. Uexkülls Einfluss auf Konrad Lorenz und andere war wichtig für die Entwicklung der Ethologie als Teildisziplin der Biologie. Dennoch bleiben sowohl in der philosophischen als auch in der wissenschaftlichen Rezeption seines Werkes ungelöste Fragen bestehen.

Die philosophische Rezeption von Uexküll, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, ging weitgehend von anderen Begriffen und Ausgangspunkten aus als Uexküll selbst. Dies ermöglichte es ihnen, seine Schlussfolgerung zu vermeiden, dass Menschen, wie alle Tiere, in einer isolierten privaten Welt des subjektiven Erlebens leben, aber es hinderte sie auch daran, sich direkt mit Uexküll auf seinen eigenen Begriffen auseinanderzusetzen. In der wissenschaftlichen Rezeption, insbesondere in der neueren kognitionswissenschaftlichen Forschung, wird Uexküll oft nur am Rande erwähnt. Da eine tiefgehende Auseinandersetzung mit seinen Gedanken weitgehend fehlt, läuft die Rezeption von Uexküll in diesen Kontexten Gefahr, die wichtigsten philosophischen Implikationen seines Werkes zu verpassen. Trotz eines Jahrhunderts Arbeit an Uexküll sind wir heute noch stark mit der Frage beschäftigt, was genau sein Konzept der Umwelt bedeutet, wie es mit unseren verschiedenen epistemischen Projekten resoniert und kollidiert und was es uns in Zukunft bringen könnte. Seine Gedanken sind dabei ein wichtiges Fundament, um Umweltthemen für Referate spannend und tiefgründig zu gestalten.


Tim Elmo Feiten ist Doktorand an der University of Cincinnati. Er hat über die Rezeption von Jakob von Uexküll in der Kognitionswissenschaft und die Beziehung zwischen ökologischer Psychologie und Enaktivismus sowie über die Verbindungen zwischen Max Stirner und der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts publiziert. Seine Forschung befasst sich mit der Geschichte und Philosophie der Kognitionswissenschaft und Biologie sowie deren Schnittstellen mit der französischen und deutschen Philosophie.

Twitter: @tim_elmo

Aus The Philosopher, Bd. 110, Nr. 1 (“The New Basics: Planet”).

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