Die Frage, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und verstehen, beschäftigt Philosophen und Soziologen seit Jahrhunderten. Ein Meilenstein in dieser Debatte ist das wegweisende Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Dieses Buch, einflussreich in der interpretativen Soziologie des 20. Jahrhunderts, beleuchtet, wie unsere Realität nicht objektiv gegeben ist, sondern durch soziale Interaktion, Deutung und Tradierung geformt wird. Die Konstruktion Der Wirklichkeit ist demnach ein dynamischer Prozess, der den Alltag zur Bühne für die ständige Neuverhandlung sozialer Ordnung macht. Es ist ein fundamentales Konzept, das unser Verständnis von Gesellschaft, Wissen und individueller Wahrnehmung tiefgreifend verändert hat und weit über die Grenzen der Soziologie hinaus in Kommunikations-, Medien- und Kulturtheorie nachwirkt. In diesem Artikel tauchen wir tief in die Kernthesen dieses Werkes ein und beleuchten seine anhaltende Relevanz.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Das Werk von Berger und Luckmann entstand Mitte der 1960er-Jahre, einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Phänomene wie Demokratisierung, eine verstärkte Subjektivierung des Individuums, neue soziale Bewegungen und die Entstehung pluraler Öffentlichkeiten führten zu einer intensiveren Reflexion über die Grundlagen sozialer Ordnung. In diesem Klima boten Berger und Luckmann mit ihrem Buch eine frische Perspektive an. Sie knüpften an die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz an und betonten die Bedeutung der Alltagserfahrung. Gleichzeitig distanzierten sie sich vom damals dominierenden Strukturfunktionalismus eines Talcott Parsons, indem sie eine Mikroperspektive auf die Gesellschaft wählten, bei der das “Alltagswissen” und die direkte soziale Interaktion im Zentrum standen. Ihr Ansatz zeigt damit auch eine enge Verbindung zum Symbolischen Interaktionismus, wie er von Mead und Blumer vertreten wurde, sowie zur Ethnomethodologie nach Garfinkel.
Berger und Luckmann, obwohl in den USA tätig, hatten beide einen deutschsprachigen Hintergrund, was sich in ihrer theoretischen Fundierung widerspiegelt. Ihr 1966 erstmals veröffentlichtes Werk wurde schnell zur Grundlage für den Sozialkonstruktivismus und beeinflusste maßgeblich die Medien- und Kommunikationsforschung, die Wissenssoziologie und die Diskurstheorie. Ihre zentrale Annahme besagt, dass Wirklichkeit kein objektiv vorgegebenes Faktum ist, sondern durch soziale Interaktion, Sprache und institutionalisierte Wissensformen entsteht und somit eine ständige Konstruktion der Wirklichkeit darstellt.
Peter L. Berger, einer der Hauptvertreter der Theorie zur Konstruktion der Wirklichkeit, im Jahr 2010
Zentrale Fragestellung: Wie entsteht die Realität?
Die Leitfrage, die sich Berger und Luckmann in ihrem Werk stellen, ist fundamental und zugleich provokativ: Wie kommt es, dass Menschen die soziale Wirklichkeit als objektiv gegeben und selbstverständlich erleben – obwohl sie diese Wirklichkeit doch selbst erzeugen? Sie untersuchen akribisch, wie im alltäglichen Handeln durch Sprache, Institutionen und den Prozess der Sozialisation stabile Ordnungsmuster entstehen, die sich im kollektiven Bewusstsein als “Realität” durchsetzen. Die Wirklichkeit des Alltags wird dabei als ein soziales Konstrukt verstanden – allerdings nicht im Sinne einer beliebigen, rein subjektiven Erfindung, sondern als eine historisch gewachsene und intersubjektiv geteilte Konstruktion der Wirklichkeit. Dies bedeutet, dass die Welt, in der wir leben, zwar von uns geschaffen wird, aber dennoch eine Eigendynamik entwickelt und auf uns zurückwirkt.
Die Hauptthesen: Eine Dialektik der Wirklichkeitsformung
Berger und Luckmann beschreiben die Entstehung und Verfestigung sozialer Wirklichkeit als einen dreistufigen dialektischen Prozess, der ständig im Gange ist. Diese Dialektik ist der Kern ihrer Argumentation und erklärt, wie die Konstruktion der Wirklichkeit funktioniert.
1. Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung
Dieser dreigliedrige Prozess ist entscheidend für das Verständnis, wie Gesellschaft entsteht und sich reproduziert:
- Externalisierung: Menschen handeln, produzieren Bedeutungen und gestalten aktiv soziale Wirklichkeit. Jede Geste, jedes Wort, jede Entscheidung trägt zur Formung der sozialen Welt bei. Es ist der Akt des Hinausstellens, des Sichtbarmachens von Gedanken und Handlungen.
- Objektivierung: Die durch Externalisierung geschaffenen Bedeutungen werden verfestigt und nehmen eine scheinbar eigenständige, objektive Qualität an. Dies geschieht beispielsweise in der Herausbildung von Rollen, Normen oder ganzen Institutionen. Sie wirken auf die Individuen zurück, als wären sie naturgegeben und unabhängig von menschlichem Handeln entstanden.
- Internalisierung: Die nachfolgenden Generationen übernehmen diese objektivierten Bedeutungen als scheinbar objektive Wirklichkeit. Sie lernen die Welt, wie sie ist, und verinnerlichen die sozialen Strukturen, Normen und Werte als ihre eigene “subjektive Wirklichkeit”. Dieser Schritt schließt den Kreislauf und führt zur Re-Produktion der sozialen Ordnung.
2. Institutionalisierung und Legitimation
Institutionen sind für Berger und Luckmann verfestigte Handlungsmuster, die durch Regeln, Symbole und Rollen abgesichert werden. Sie sind das Ergebnis wiederholter, habitualisierter Handlungen, die sich im Laufe der Zeit zu erwartbaren Mustern verfestigen. Institutionen stabilisieren die soziale Ordnung und erzeugen Erwartungssicherheit für die Individuen. Um ihre Beständigkeit zu gewährleisten, bedürfen Institutionen der Legitimation. Legitimationssysteme, wie zum Beispiel Religion, Wissenschaft oder Recht, dienen dazu, diese soziale Ordnung als legitim und gerechtfertigt darzustellen und zu untermauern. Durch Legitimation wird die Konstruktion der Wirklichkeit stabilisiert und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft sichergestellt.
3. Sprache als Fundament der Wirklichkeit
Sprache ist nach Berger und Luckmann das zentrale Medium, durch das Wirklichkeit strukturiert, vermittelt und tradiert wird. Sie ermöglicht nicht nur die unmittelbare Kommunikation zwischen Menschen, sondern auch die Speicherung, Kumulierung und Weitergabe sozialen Wissens über Generationen hinweg. Ohne Sprache wäre eine intersubjektive Konstruktion der Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Dauerhaftigkeit kaum denkbar. Sie liefert die Kategorien und Konzepte, mit denen wir die Welt ordnen und interpretieren.
4. Sozialisation: Das Verinnerlichen der Wirklichkeit
Im Sozialisationsprozess wird die soziale Ordnung von den Individuen verinnerlicht. Dieser Prozess beginnt bereits in der frühen Kindheit und ist entscheidend für die Ausbildung der persönlichen Realitätswahrnehmung.
- Die primäre Sozialisation (in der Kindheit, meist im Familienkontext) schafft die grundlegende Struktur der Wirklichkeitswahrnehmung und prägt das Fundament der Identität. Hier werden die fundamentalen Normen, Werte und Verhaltensmuster gelernt, die als selbstverständlich angenommen werden.
- Die sekundäre Sozialisation (z. B. in der Schule, im Beruf oder in spezifischen sozialen Rollen) differenziert diese Wirklichkeitsstruktur weiter aus und ergänzt sie um spezialisiertes Wissen und spezifische Rollenkompetenzen.
Hier entsteht das, was Berger und Luckmann als “subjektive Wirklichkeit” bezeichnen – die individuelle Aneignung der gesellschaftlich konstruierten Welt.
Alltägliche Beispiele für die Konstruktion der Wirklichkeit
Um die Abstraktheit der Theorie zu veranschaulichen, beleuchten Berger und Luckmann alltägliche Beispiele, wie Normen und Verhaltensweisen entstehen und sich verfestigen. Diese Beispiele zeigen auf eindrucksvolle Weise, wie die Konstruktion der Wirklichkeit in unserem Leben wirkt.
Normen im Alltag: Das Ausziehen der Schuhe
Berger und Luckmann demonstrieren, dass Normen nicht einfach “da” sind, sondern in einem sozialen Prozess entstehen und sich als Teil der Wirklichkeit etablieren. Nehmen wir das Beispiel des Ausziehens der Schuhe beim Betreten eines Hauses:
- Externalisierung: Eine Gruppe von Menschen beginnt, eine bestimmte Verhaltensweise als wünschenswert oder praktisch zu empfinden – etwa das Ausziehen der Schuhe, um Schmutz zu vermeiden oder aus Respekt vor dem Wohnraum. Dieses Verhalten wird zunächst individuell praktiziert.
- Objektivierung: Durch wiederholtes Handeln und soziale Kommunikation wird diese Regel institutionalisiert. In vielen Haushalten wird ein Bereich für Schuhe eingerichtet, und Gäste werden freundlich darauf hingewiesen: “Wir ziehen hier die Schuhe aus.” Die Regel erscheint zunehmend selbstverständlich und wird als Teil der Hausordnung wahrgenommen.
- Internalisierung: Kinder, die in solchen Haushalten aufwachsen, erleben diese Norm nicht mehr als soziale Konstruktion, sondern als “normales” und unumstößliches Verhalten. Sie fühlen sich möglicherweise unwohl oder sogar respektlos, wenn sie diese Regel nicht einhalten – selbst in anderen kulturellen Kontexten, wo diese Norm nicht existiert.
Diese kleine, alltägliche Praxis zeigt exemplarisch, wie soziale Wirklichkeit durch Wiederholung, sprachliche Absicherung und Sozialisierung über Generationen hinweg konstruiert und verinnerlicht wird.
Respekt gegenüber der Polizei: Eine soziale Norm in Aktion
Auch im Bereich von Recht und Ordnung werden Normen nicht einfach von oben verordnet, sondern in komplexen sozialen Prozessen konstruiert. Ein weiteres Beispiel aus dem polizeilichen Alltag verdeutlicht dies:
- Externalisierung: In einer Gesellschaft wird der Polizei eine besondere Autorität zugeschrieben. Bürger beginnen, ein bestimmtes Verhalten – wie eine aufrechte Haltung, einen freundlichen Tonfall oder das Befolgen von Anweisungen – als angemessen und respektvoll gegenüber Polizeibeamten zu betrachten. Diese Verhaltensweisen werden zunächst im Umgang mit Autoritätspersonen externalisiert.
- Objektivierung: Diese Erwartungen verfestigen sich und schlagen sich in Medienberichten, Schulunterricht, Behördenkommunikation und Alltagsgesprächen nieder: “So benimmt man sich gegenüber der Polizei.” Abweichungen davon, wie etwa die Weigerung, sich auszuweisen oder ein respektloser Ton, gelten schnell als verdächtig oder unangemessen, selbst wenn kein direkter Rechtsverstoß vorliegt.
- Internalisierung: Junge Menschen übernehmen diese Erwartungen im Laufe ihrer Sozialisation. Wer sich nicht “respektvoll” verhält, wird oft sanktioniert oder gesellschaftlich abgewertet – unabhängig davon, ob ein rechtlicher Verstoß vorliegt. So entsteht eine soziale Norm, die nicht juristisch kodifiziert ist, aber dennoch eine starke soziale Wirksamkeit besitzt.
Dieses Beispiel verdeutlicht eindrücklich, dass auch staatliche Autorität nicht “naturgegeben” ist, sondern auf symbolisch vermittelte und internalisierte Erwartungsmuster angewiesen ist – ein klassischer Fall der sozial konstruierten Wirklichkeit.
Theoretische Verankerung: Interaktionismus und Phänomenologie
Das Werk von Berger und Luckmann steht in enger Verbindung zu anderen mikrosoziologischen Ansätzen, die die Bedeutung von Interaktion und individueller Wahrnehmung hervorheben. Ähnlich wie der Symbolische Interaktionismus, vertreten durch Denker wie George Herbert Mead, Herbert Blumer und Erving Goffman, betonen Berger und Luckmann die essenzielle Rolle von Interaktion, Sprache und geteilten Symbolen bei der Entstehung sozialer Realität. Gleichzeitig greifen sie die phänomenologische Perspektive von Alfred Schütz auf, die besagt, dass Wirklichkeit immer perspektivisch, kontextgebunden und untrennbar in menschliches Handeln eingebettet ist. Im Unterschied zu makrotheoretischen Modellen wie dem Strukturfunktionalismus, der Systemtheorie oder dem Marxismus setzen sie auf eine bodenständige, alltagsnahe Gesellschaftsanalyse. Dieser Fokus auf die Mikroebene ermöglicht ein tiefgreifendes Verständnis der Prozesse, die zur Konstruktion der Wirklichkeit beitragen.
Rezeption und bleibende Wirkung
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit avancierte schnell zu einem modernen Klassiker der Soziologie und prägte den Begriff des Sozialkonstruktivismus maßgeblich. Das Werk inspirierte zahlreiche nachfolgende Forschungsrichtungen, darunter Diskursanalysen im Sinne Michel Foucaults, die Cultural Studies, verschiedene Formen der Medienkritik sowie Theorien des Poststrukturalismus. Insbesondere in der Medien- und Kommunikationsforschung wird es bis heute intensiv rezipiert, da es grundlegende Mechanismen der Realitätsbildung und -vermittlung aufzeigt.
Trotz seines enormen Einflusses wurde das Werk auch kritisiert. Ein häufiger Einwand betrifft die relativ machtneutrale Perspektive: Machtverhältnisse, materielle Bedingungen oder ideologische Einflüsse kommen in der ursprünglichen Analyse nur am Rande vor. Dieser Aspekt wurde später von kritischen und poststrukturalistischen Autorinnen und Autoren aufgegriffen und korrigiert, die die Rolle von Macht in der Konstruktion der Wirklichkeit stärker betonten. Nichtsdestotrotz bleibt der Beitrag von Berger und Luckmann für die Sozialwissenschaften unbestreitbar.
Fazit: Die anhaltende Relevanz einer bahnbrechenden Theorie
Mit Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit legten Peter L. Berger und Thomas Luckmann ein Werk vor, das die Soziologie nachhaltig verändert hat. Ihre grundlegende These, dass soziale Ordnung nicht als statische Gegebenheit existiert, sondern aktiv von Menschen gemacht und ständig neu verhandelt wird, bleibt bis heute hochaktuell. In einer Zeit, in der sich Wirklichkeiten pluralisieren, miteinander konkurrieren und durch digitale Medien rasant beschleunigt werden, ist der genaue Blick auf die Prozesse ihrer sozialen Konstruktion wichtiger denn je. Dieses Werk ist ein Schlüsseltext für alle, die verstehen wollen, wie Gesellschaft sich im Alltag reproduziert – durch Worte, Routinen, Institutionen und geteilte Deutungsmuster. Es fordert uns auf, unsere scheinbar objektive Realität kritisch zu hinterfragen und die unsichtbaren Mechanismen der Konstruktion der Wirklichkeit zu erkennen, die unser Leben prägen. Wer die Gesellschaft verstehen will, kommt an diesem bahnbrechenden Buch nicht vorbei.
Literaturverzeichnis
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1966). The Social Construction of Reality. New York: Anchor Books.
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.
- Schütz, A. (1971). Gesammelte Aufsätze zur phänomenologischen Soziologie. Den Haag: Nijhoff.
- Blumer, H. (1969). Symbolic Interactionism: Perspective and Method. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
