Wilhelm von Humboldt nimmt in der Riege liberaler Bildungsdenker eine herausragende Stellung ein. Seine Ideen zur Bildung, insbesondere sein Appell im “Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König” von 1809, eine allgemeine Grundbildung für jeden zu gewährleisten, sind bis heute von tiefgreifender Relevanz. Humboldt betonte, dass eine solche Bildung nicht nur das Erlernen verschiedenster Berufe erleichtere, sondern den Menschen auch die Freiheit zum beruflichen Wechsel ermögliche – eine Vision, die angesichts aktueller Debatten um Chancengerechtigkeit und hohe Schulabbrecherquoten heute aktueller denn je ist. Im Zentrum seines Denkens steht die Entfaltung des Individuums hin zur “höchsten und Proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.”
Wer war Wilhelm von Humboldt? Eine Kurzbiographie
Wilhelm von Humboldt (1767–1835) gilt als der liberale Bildungsphilosoph schlechthin. Geboren in eine großbürgerliche Familie, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den Adelsstand erhoben wurde, wuchs er in einem Umfeld auf, das Bildung und das Streben nach Erkenntnis förderte. Privatunterricht, ausgedehnte Bildungsreisen und ein unermüdlicher Fleiß prägten seinen Weg zu einem beeindruckenden Gelehrtenleben. Humboldt wirkte nicht nur als Sprachwissenschaftler und Bildungstheoretiker, sondern auch als Staatsmann und Reformer im Dienste des preußischen Königs. Seine Fähigkeiten waren besonders nach der Niederlage Preußens gegen Napoleons Armee bei Jena und Auerstedt 1806 gefragt, als die Modernisierung des Staates zu einer dringenden Überlebensaufgabe wurde. Er war maßgeblich an der Überarbeitung des Königsberger Schulplans und der Gründung der Universität zu Berlin beteiligt.
Humboldts Bildungsideal: Freiheit, Selbstentfaltung und die “proportionierlichste Bildung”
Jürgen Overhoff fasst Humboldts Bildungsphilosophie treffend mit den Begriffen „Bildungstrieb und Freiheitsdrang“ zusammen. Aufbauend auf den Ideen Immanuel Kants, wurden Autonomie und Mündigkeit zu den zentralen Zielen einer Bildungspolitik, die nur teilweise staatlich organisiert sein sollte. Humboldt formulierte 1809: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf.“ Dieser Anspruch auf ein Recht auf grundständige Bildung für jeden Menschen ist bis heute unbestritten.
Die Auswahl der Unterrichtsfächer war jedoch differenzierter zu sehen: Obwohl Gymnastik, Mathematik und Ästhetik zu den von Humboldt genannten Fächern gehörten, galt seine eigentliche Leidenschaft den Sprachen des klassischen Altertums. Ein weit verbreiteter Irrtum ist hingegen die Zuschreibung der „Einheit von Forschung und Lehre“ an Humboldt. Diese Forderung hatte ihren Ursprung bereits im 17. Jahrhundert, als Fürstentümer nach dem Dreißigjährigen Krieg nach Kosteneinsparungen für ihre Universitäten suchten. Kolleggelder sollten die Forschung der Professoren finanzieren. Humboldt vertrat zwar die Devise, dass Hochschulen „Wissenschaft als solche zu suchen“ hätten, doch die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Ausdifferenzierung über außeruniversitäre Forschungseinrichtungen steht nicht im Widerspruch zu Humboldts Bildungsideal. Sein Ideal richtete sich vor allem an das Individuum, dem die Selbstentfaltung ermöglicht werden sollte.
Wilhelm von Humboldt, Vordenker der liberalen Bildung in Deutschland
Humboldt selbst drückte den Kern seiner Philosophie in seinen “Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen” (1792) wie folgt aus:
„Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt — ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, — Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“
Dauerhafte Relevanz: Humboldts Erbe in der modernen Bildung
Humboldts Vision einer universellen menschlichen Bildung, die über die rein berufliche Spezialisierung hinausgeht, hat die Bildungslandschaft in Deutschland und darüber hinaus nachhaltig geprägt. Seine Forderung nach einer Trennung von allgemeiner Bildung und beruflicher Spezialisierung, wie im “Königsberger und der Litauische Schulplan” (1809) festgehalten, ist bis heute ein Leitgedanke:
„Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. — Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinem Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen.“
Auch die Rolle der Hochschulen als Orte der Wissenschaft im weitesten Sinne, die der moralischen und geistigen Kultur der Nation dienen, ist ein Vermächtnis Humboldts. In seiner Schrift “Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin” (1809/10) formulierte er:
[internal_links]„Der Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Kultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmäßig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.“
Wilhelm von Humboldts Vermächtnis ist die tiefe Überzeugung, dass Bildung primär der Entfaltung des menschlichen Potentials dient und Freiheit die Grundlage dafür ist. Sein Ideal der proportionierlichste Bildung, die alle Kräfte des Menschen zu einem harmonischen Ganzen entwickelt, bleibt ein zeitloser Maßstab für moderne Bildungssysteme. Möchten Sie mehr über die Denker und Ideale erfahren, die Deutschland geprägt haben? Dann tauchen Sie tiefer ein in die reiche Geistesgeschichte dieses Landes.