Seitdem der französische Präsident Macron Ende 2017 die Rückgabe kolonialer Raubkunst nach Afrika thematisierte, steht die deutsche Politik unter Handlungsdruck. Die postkoloniale Kritik am Humboldt Forum wurde lange Zeit ignoriert, doch nun folgten vorschnelle und einseitige Reaktionen.
Während weiterhin eine Lösung im Streit mit den Herero und Nama über den Umgang mit dem ersten deutschen Genozid aussteht und ein klares Konzept fehlt, wie das Humboldt Forum mit seinem dreifachen kolonialen Erbe – dem Gebäude, den Objekten und der institutionellen Tradition des völkerkundlich-kolonialen Blickes – umgehen soll, wird die Provenienzforschung zum Allheilmittel stilisiert. Stellen werden geschaffen und das Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg um eine Förderlinie zum Kolonialismus erweitert.
Dabei fehlen sowohl eine Einigung über belastbare methodische Grundlagen als auch ein Konsens über die praktischen Konsequenzen, wie etwa Restitutionen. So erfreulich das zügige Handeln der Politik ist, so hinterlässt die Konzentration auf Provenienzforschung bei gleichzeitiger Verweigerung einer umfassenden Diskussion einen bitteren Beigeschmack. Die politische Entscheidung über die Restitution kolonialer Objekte wird in die Zukunft verschoben. Es liegt nahe, dass dies für einige den größten Reiz der Provenienzforschung ausmacht. Werden gleichzeitig Themen wie Völkermord, Humboldt Forum oder die Kontinuitäten des kolonial-rassistischen Blicks vernachlässigt, fördert die Fokussierung auf Provenienzforschung jedoch die koloniale Amnesie, anstatt sie zu reduzieren.
Wenn Provenienzforschung mehr sein soll als ein Alibi und ein Hinauszögern, bedarf es einer Verständigung darüber, was sie eigentlich ausmacht und welchem Zweck sie dient. Im Folgenden werden einige Grundlagen aus der Sicht eines Kolonialhistorikers beleuchtet.
Das koloniale Sammeln und Ausstellen darf nicht isoliert von der Kolonialgeschichte betrachtet werden, sondern ist ein integraler Bestandteil dieser. Kolonialismus beschränkt sich nicht nur auf formale Kolonialherrschaft, politische Verwaltung und wirtschaftliche Ausbeutung, sondern umfasst auch die wissenschaftliche und kulturelle Auseinandersetzung. Sogenannte “Entdeckungen” und “Erforschungen” bereiteten die koloniale Ausbreitung vor und begleiteten sie.
Jürgen Zimmerer lehrt Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und leitet die Forschungsstelle Hamburgs für (post-)koloniales Erbe.
Die Rolle der Völkerkundemuseen im Kolonialismus
In diesem Kontext entstanden und florierten Völkerkundemuseen sowie die akademische Disziplin der Völkerkunde. In Deutschland standen diese in einer symbiotischen Beziehung zur wachsenden Kolonialbegeisterung. Museen bereiteten den Kolonialismus vor und begleiteten ihn, indem sie zum einen die Neugier des Bürgertums auf “fremde” Welten befriedigten und zum anderen diese Welten in ihrer Darstellung homogenisierten und exotisierten. Dies festigte den eurozentrischen Blick und das Gefühl der eigenen Überlegenheit, eine wichtige Rechtfertigung des kolonialen Ausgreifens und eine der langwierigsten Folgen des Kolonialismus.
Machtungleichgewicht und die Rolle der Gewaltandrohung
Kolonialismus war und ist ein auf rassistischen Weltbildern basierendes Unrechtssystem, das ohne Einladung und Zustimmung der Kolonisierten ein System der Fremdherrschaft etablierte. Dieses Unrechtssystem beinhaltete ein erhebliches Machtungleichgewicht, das auch ohne physische Gewalt die Androhung ebendieser implizierte. Die Bewertung jedes Besitzwechsels muss diese implizite Gewaltandrohung miteinbeziehen.
Das bedeutet nicht, dass es keine freiwilligen und fairen Eigentumsübergänge im Kolonialismus gegeben hätte, allerdings muss die Anfangsvermutung sein, dass Gewalt oder die Gewaltandrohung eine Rolle spielte; es geht hier um Wahrscheinlichkeiten. Für den Umgang mit kolonialen Sammlungen bedeutet dies, dass die Beweislast umgekehrt werden muss. Ein Objekt sollte also als unrechtmäßig erworben gelten, bis das Gegenteil bewiesen wird. Die gängige Annahme, alles sei rechtmäßig erworben, bis das Gegenteil bewiesen ist, schreibt dagegen die koloniale Rechtfertigungslogik fort, zumal die Dokumentation fast vollständig aus der Feder der Kolonisierenden stammt.
Die Grenzen des Rechts bei der Restitution von Raubkunst
Dem Problem der Provenienz und der Restitution ist mit Verweis auf “das” Recht, sei es deutsches oder europäisches, alleine nicht beizukommen. Dieses Recht ist das Recht der (ehemaligen) Kolonialherren, und dessen Gültigkeit in kolonialen Verhältnissen resultiert aus der kolonialen Okkupation und kolonialen Herrschaft. Es gehört selbst zum kolonialen Erbe und ist ungeeignet, um die Legitimität des kolonialen Erwerbs zu bewerten.
Die Restitution von Raubkunst ist ein komplexes Thema, bei dem es um die Rückgabe von Kunstwerken und Kulturgütern geht, die während der Kolonialzeit unrechtmäßig erworben wurden. Die Debatte um die Rückgabe dieser Objekte ist ein wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe.
Der Unterschied zur NS-Raubkunst und die Dekolonisierung des Blicks
Hier liegt auch ein Unterschied zum Umgang mit NS-Raubkunst. Der Blick auf die Enteignungen und Räubereien im Nationalsozialismus erlaubt zwar einen bezeichnenden Blick auf das System und die Gesellschaft des Dritten Reiches, er stellt den “westlichen” Blick aber nicht grundsätzlich infrage. Vielmehr wird durch die Restitutions- und Wiedergutmachungspraxis das Rechtssystem des globalen Nordens grundsätzlich stabilisiert, beweist es doch die Fähigkeit, Unrecht zu korrigieren. Postkoloniale Raubkunstforschung lenkt den Blick jedoch auf unsere gesamte heutige Museumslandschaft, ja unsere heutige Gesellschaft als Ganzes. Es geht um die Hinterfragung, die Dekolonisierung des europäischen, des kolonialen Blicks auf die Welt, der Produktion dieses Blicks, und der tatsächlichen Aneignung dieser Welt. Die gewaltsame Unterdrückung mag zumindest formal beendet sein, die epistemologische Hegemonie ist es nicht. Diese Hegemonie gilt es aufzubrechen, um eine gerechtere Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe zu ermöglichen.
Koloniales Erbe und die Auseinandersetzung mit der Globalisierung
Die Diskussion um “koloniale Raubkunst” ist Teil eines breiteren Diskurses über koloniales Erbe und koloniale Amnesie. Hier ist vor allem der Streit über den Umgang mit dem Genozid an den Herero und Nama zu nennen. Die gefährliche Schlagseite, die das Humboldt Forum bekommen hat, ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich der Diskurs über Raubkunst mit dem über den ersten deutschen Völkermord verband, architektonisch symbolisiert durch das wiederaufgebaute Stadtschloss. Einen nachhaltigen Umgang mit dem (post-)kolonialen Erbe wird es nur geben, wenn weithin akzeptierte Konzepte für den Umgang mit beiden Themenkomplexen gefunden wurden.
Beide Debatten, um die koloniale Raubkunst ebenso wie um den ersten deutschen Genozid, sind auch ein Symptom des allgemeinen Übergangs von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung. Wir verhandeln nichts weniger als unsere Zukunft in einer Welt, in der Europa dauerhaft dezentriert und provinzialisiert ist. Der Umgang mit dem kolonialen Erbe Europas ist eine der großen, wenn nicht die größte Identitätsdebatte unserer Zeit, und der Streit um koloniale Objekte ist ein Kapitel daraus.
Der Weg zur Restitution: Grundsätze und Perspektiven
In der Frage der Restitution gibt es nur zwei Optionen: Man bekennt sich zum Grundsatz, geraubte Objekte zu restituieren oder man lehnt diesen Grundsatz ab. Manche plädieren für einen Schlussstrich, für die Festlegung eines Zeitpunkts, vor dem man die Vergangenheit ruhen lässt oder zumindest alle Restitutionsforderungen aufgibt. Das mag einleuchtend scheinen, wirft es jedoch die Frage auf, wer eigentlich diesen Zeitpunkt bestimmen kann, und wann dieses Datum ist. Warum etwa die NS-Raubkunst auf dieser und nicht auf der anderen Seite dieses Cutoff-Punktes gesetzt wird? Darüber gälte es zu streiten! Jedenfalls darf durch den Hinweis auf Provenienzforschung die grundsätzliche Entscheidung nicht verschoben werden.
Deutschland braucht ein postkoloniales Erinnerungskonzept, das auch der Frage nach Gedenkorten und Lern- und Forschungseinrichtungen nachgeht. Deutschland, wie Europa insgesamt, muss sich neu in der Welt positionieren. Dies durch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte zu tun und die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen, wäre ein wichtiger Schritt. Nur so ist auch das Humboldt-Forum zu retten, sonst erdrückt die Hülle des Stadtschlosses die viel beschworene Agora. Eine offene und kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist essenziell, um eine inklusive und zukunftsorientierte Gesellschaft zu gestalten. Nur so kann das Humboldt Forum zu einem Ort des Dialogs und der Verständigung werden, anstatt ein Denkmal kolonialer Vergangenheit zu bleiben.