Weimarer Republik: Wie staatsbürgerliche Bildung Demokratie prägte

Prof. Dr. Matthias Busch, Experte für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften

Der November 1918 markierte in Deutschland einen Wendepunkt, der Republikanern und Pädagogen die Möglichkeit eröffnete, Gesellschaft und Bildungswesen zu demokratisieren. Doch diese Aufbruchsstimmung stieß auf eine tief gespaltene Gesellschaft, in der selbst grundlegende Fragen der Staatsform umstritten blieben. Wie Prof. Matthias Busch aufzeigt, navigierte die Weimarer Republik in dieser komplexen Landschaft zwischen reformpädagogischen Idealen, populistischen Strömungen und wegweisenden Konzepten der staatsbürgerlichen Bildung, die schließlich zu einer „realistischen Wende“ führten. Diese Entwicklung ist nicht nur ein faszinierendes Kapitel deutscher Geschichte, sondern bietet auch wertvolle Einblicke in die fortlaufende Bedeutung der politischen Bildung für eine stabile Demokratie. Um tiefer in die Grundlagen einzutauchen, empfiehlt sich ein Blick in unser kompendium staatsbürgerliche bildung.

November 1918: Ein Aufbruchssignal für die staatsbürgerliche Bildung

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Ausrufung der Republik im November 1918 sahen Bildungspolitiker und Pädagogen eine historische Chance, das deutsche Bildungswesen grundlegend zu reformieren und zu demokratisieren. Ideen der Reformpädagogik, wie die Arbeitsschulpädagogik oder die Volkshochschulbewegung, die bereits im Kaiserreich entstanden waren, erhielten neuen Aufwind. Die frisch gegründete Republik löste einen „allgemeinen Ruf nach Vertiefung der staatsbürgerlichen Bildung“ aus, der über traditionelle Bildungsarbeit von Gewerkschaften, Parteien und Kirchen hinausging und eine vielfältige, pluralistische Bildungslandschaft durch Vereine, kommunale Einrichtungen und freie Volkshochschulen entstehen ließ.

Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) verankerte explizit die schulische politische Bildung. Artikel 148 WRV legte fest: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.“ Zudem wurden Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht als Lehrfächer eingeführt und die Förderung der Erwachsenenbildung als öffentliche Aufgabe anerkannt. Diese ambitionierten Pläne standen jedoch unter keinem guten Stern. Das Land war gezeichnet von den Nachwirkungen des Krieges, den harten Bedingungen des Versailler Vertrags und einer verheerenden Hyperinflation, die weite Teile der Bevölkerung in die Armut trieb.

Die deutsche Gesellschaft war politisch zutiefst gespalten, und ein Konsens über zentrale Fragen der Staatsform oder der Bildungspolitik konnte kaum erreicht werden. Um national-konservative Kreise zu besänftigen, wurde das Bildungsziel der „Völkerversöhnung“ durch den „Geist des deutschen Volkstums“ ergänzt. Statt eines klaren Bekenntnisses zur Republik wurde lediglich eine vage „staatsbürgerliche Gesinnung“ angestrebt. Die Forderung, „dass Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden“ sollen, wurde von Republikskeptikern oft missbraucht, um verfassungsfeindliche Positionen als gleichberechtigt darzustellen. Der politische Parteienstreit und das Blockadeverhalten prägten Politik und Bildungsarbeit, was viele Pädagogen als „Zerrissenheit des Volkes“ beklagten und die „Politisierung“ von Kindern und Jugendlichen kritisierten.

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Zwischen Neuland und Professionalisierung: Die Entwicklung der Staatsbürgerkunde

Trotz der politischen und gesellschaftlichen Widerstände sollten die bildungspolitischen Reformschwierigkeiten der Weimarer Republik nicht als Scheitern demokratischer politischer Bildung interpretiert werden. Viele zeitgenössische Pädagogen sahen darin vielmehr einen Freiraum, eigene Konzepte für die Staatsbürgerkunde zu entwickeln und zu erproben – denn dieses Fach war echtes „Neuland“. Eine akademische Ausbildung für Lehrkräfte gab es zunächst nicht. Stattdessen dienten öffentliche Vorträge, Seminare, lokale Arbeitsgemeinschaften und ein reger nationaler und internationaler Austausch in Fachzeitschriften und Monographien dem Wissens- und Methodentransfer.

Eine zentrale Rolle spielte hierbei die 1918 gegründete „Reichszentrale für Heimatdienst“. Sie versorgte die Erwachsenenbildung und Lehrende mit umfangreichen Schriften, Bildungsmaterialien und Vortragsreihen, um über politische, wirtschaftliche und soziale Fragen aufzuklären und somit der überparteilichen staatsbürgerlichen Bildung zu dienen. Mit einem Netzwerk von Zehntausenden „Vertrauensleuten“ organisierte sie Vorträge und Lehrgänge für die Bevölkerung. Auch „neue Medien“ wie Film und Radio wurden für die Bildungsarbeit erschlossen. Diese Phase der Selbstwahrnehmung als „tastendes Tappen“ führte zu einer schrittweisen Professionalisierung. Diese manifestierte sich in der Etablierung entsprechender Studiengänge, der Gründung der Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung (1927) sowie fachübergreifenden Vereinigungen wie dem Hohenrodter Bund und dem „Reichsverband der Deutschen Volkshochschulen“, die als Diskussionsforen dienten.

Bildungskonzepte in einer gespaltenen Gesellschaft: Die Herausforderung der Neutralität

Die Frage, wie politische Bildung unter den Bedingungen einer von weltanschaulichen und parteipolitischen Konflikten tief gespaltenen Gesellschaft zu gestalten sei, beschäftigte Pädagogen in Schule und Erwachsenenbildung gleichermaßen. Methodisch wurden vielfältige Verfahren aus der Arbeitsschulpädagogik für die Staatsbürgerliche Bildung erschlossen. Erkundungen, Simulationen und „Kinderrepubliken“ wurden erprobt, und didaktische Prinzipien wie Problem- oder Erfahrungsorientierung etabliert. Dennoch blieben die grundsätzliche Ausrichtung politischer Bildung gegenüber der Republik und die Gewährleistung parteipolitischer Neutralität – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – lange Zeit ungelöst.

Die Schwierigkeit, tagespolitische Fragen zu behandeln, ohne Lernende parteipolitisch zu beeinflussen, entwickelte sich zu einem der heftigsten didaktischen Streitpunkte. Einigkeit bestand darin, dass Lehrkräfte „jede mittelbare und unmittelbare Beeinflussung“ ihrer Schüler „nach irgendeiner parteipolitischen Richtung hin streng vermeiden“ müssten. Selbst Jugendorganisationen demokratischer Parteien lehnten eine frühzeitige „Politisierung“ im Sinne der eigenen Parteiposition ab und forderten, die politische Orientierung „offenzuhalten“. Es fehlte jedoch an geeigneten Konzepten, um die Bildungsarbeit vor externer parteipolitischer Funktionalisierung und ungewollter Beeinflussung durch Lehrkräfte zu schützen.

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Zunächst setzte sich die Strategie durch, tagespolitische Themen zu meiden und eine idealistische Staatsgesinnung zu fördern, die sich auf einen zeitlosen Idealstaat konzentrierte, anstatt die umstrittene Gegenwart der Republik zu diskutieren. Georg Kerschensteiner war ein prominenter Vertreter dieser neuhumanistischen Konzeption. Daneben wurde unter dem Schlagwort „Volksbildung durch Volkbildung“ eine Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ attraktiv für breite gesellschaftliche Kreise, insbesondere in Teilen der Erwachsenenbildung. Die „Volksgemeinschaft“ bot als offene, utopische Projektionsfläche eine vermeintlich „entpolitisierte“ Vision nationaler Einigung jenseits der negativ konnotierten Parteipolitik. Die Interpretationen dieses Konzepts waren jedoch sehr unterschiedlich: Republikanische Akteure sahen darin einen gesellschaftlichen Konsens über demokratische „Spielregeln“, während national-konservative Kreise einen „volksgemeinschaftlichen“ Mythos pflegten, der auf dem „Geist von 1914“ basierte, und Nationalisten sie gar als „Rassegemeinschaft“ deuteten.

Die „realistische Wende“: Hinwendung zur sachlichen Bürgerkunde

Die idealistische Staatsgesinnung und die Erziehung zur Volksgemeinschaft gerieten zunehmend in die Kritik, insbesondere nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau durch Rechtsextremisten im Juni 1922. Die demokratische Regierung sah hierfür auch die nationalistische Presse und die Toleranz gegenüber verfassungsfeindlichen Positionen verantwortlich. Daraufhin erließen die Unterrichtsminister der Länder gemeinsame „Richtlinien für die Mitwirkung der Schulen und Hochschulen zum Schutze der Republik“. Der Gedanke, Schulen und Lehrerschaft zu einem klaren Bekenntnis zur Republik und zu einer demokratischen staatsbürgerlichen Bildung zu verpflichten, wurde prägend.

Auch in den bildungsphilosophischen Konzepten erfolgte eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Staatsideal und Staatswirklichkeit. Anstelle einer „Flucht in die Utopie vom besten Staat“ wurde eine Erziehung zur republikanischen Staatsgesinnung und die „Hinwendung zum gegenwärtigen Staatsgebilde“ gefordert. Die „nebulose Rederei über Volksgemeinschaft und soziales Handeln als sittlicher Forderung“ wurde kritisiert, da sie Jugendliche zu einer bloßen „staatsbürgerlichen Werkheiligkeit“ erziehe. Stattdessen wurde in Schule und Erwachsenenbildung eine „sachliche Bürgerkunde“ verlangt, die an konkreten Beispielen Einblicke in die Realität des politischen Lebens geben sollte. Das neue Ziel war es, außerschulische Erfahrungen zu reflektieren, Urteile kritisch zu hinterfragen und die politische Sozialisation der Lernenden zu begleiten. Der Weg „politischer Erziehung“ bestand darin, „der Jugend bei ihren politischen Entscheidungen zu begleiten und ihr solche Handreichungen zu geben, durch die Vertiefung, Klärung, faire Denkart und Kampfesweise entstehen können“. In der Erwachsenenbildung fand diese „realistische Wende“ ihren Höhepunkt in der „Prerower Formel“ von 1931, die unter anderem die verantwortliche Mitarbeit aller am staatlichen und gesellschaftlichen Leben sowie die Anleitung zu selbstständigem Denken als Bildungsziel definierte.

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Kontradiktorik: Ein Prinzip für die demokratische Bildung

Das grundlegende Problem, tagespolitische Fragen zu thematisieren, ohne die Teilnehmenden parteipolitisch zu beeinflussen, fand eine wegweisende Lösung im didaktischen Prinzip der „Kontradiktorik“. Dieses Prinzip forderte, Lernende „vor gegensätzliche oder einander widersprechende Aussagen, Behauptungen, Forderungen und Urteile“ zu stellen, um sie zum „Urerlebnis der kämpferischen Auseinandersetzung“ zu führen. Dadurch konnten politische Fragen gleichberechtigt aus unterschiedlichen parteipolitischen Perspektiven erörtert werden.

Durch Zeitungslektüre, die Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Fragestellungen und die Teilnahme an politischen Diskussionen sollten die politische Urteilsfähigkeit, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und die Toleranz gegenüber den Positionen Andersdenkender gefördert werden. Politische Bildung hatte demnach die Aufgabe, „dem heranwachsenden Menschen zu helfen, ein selbständig denkender und handelnder Mensch zu werden, […] sich durch Klärung und Vertiefung der eigenen Meinung zu festigen und durch Kennenlernen anderer Meinungen und ihrer Begründungen seelisch und geistig zu erweitern.“

Anfang der 1930er Jahre war somit eine „moderne“, der Demokratie adäquate politische Bildung formuliert. Indem der Lernprozess strukturgleich zur politischen Auseinandersetzung in der Gesellschaft konzipiert wurde, entstand ein internes professionelles Abgrenzungskriterium gegen die Funktionalisierung und Politisierung politischer Bildung von außen. Dieses Erbe, ergänzt durch Prinzipien wie die Orientierung an den Interessen Jugendlicher und die Bescheidung, politische Bildung auf die „Begleitung“ politischer Sozialisationsprozesse zu beschränken, verlieh der politischen Bildung eine „pädagogische Autonomie“ (Erich Weniger) und einen Professionalisierungsstand, der die sozialwissenschaftliche Wende der 1960er Jahre und den Beutelsbacher Konsens auf beeindruckende Weise vorwegnahm.

Prof. Dr. Matthias Busch, Experte für Didaktik der GesellschaftswissenschaftenProf. Dr. Matthias Busch, Experte für Didaktik der GesellschaftswissenschaftenProf. Dr. Matthias Busch ist seit 2017 Professor für die Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Trier und promovierte 2015 zum Thema „Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik – Genese einer Fachdidaktik“.

Die Weimarer Republik war eine Zeit intensiver Bemühungen, die staatsbürgerliche Bildung als Fundament einer jungen Demokratie zu etablieren. Trotz enormer Herausforderungen durch gesellschaftliche Spaltungen und politische Turbulenzen entwickelte sich ein pluralistisches Bildungswesen, das ständig nach Wegen suchte, die Bürger zu mündigen und kritisch denkenden Individuen zu formen. Die „realistische Wende“ und das Prinzip der „Kontradiktorik“ zeugen von einer tiefgreifenden Reflexion und Anpassung, die bis heute Relevanz für die moderne politische Bildung besitzt. Sie erinnern uns daran, dass eine lebendige Demokratie eine kontinuierliche Pflege und Förderung der staatsbürgerlichen Kompetenzen ihrer Bürger erfordert.