Der Untergang von Zivilisationen: Gesellschaftlicher Zerfall statt Klima

Illustration der Neolithischen Revolution, die den Übergang von Jägern und Sammlern zu sesshaften Bauern und Viehzüchtern darstellt.

In den letzten 150 Jahren hat sich die Einwohner*innenzahl Deutschlands von etwa 41 Millionen auf über 84 Millionen mehr als verdoppelt, ein Prozess, der fast kontinuierlich verlief. Auch im größeren europäischen Raum lässt sich ein solcher Wandel beobachten. Doch dieser stabile Bevölkerungsanstieg ist ein relativ junges Phänomen. Im Europa des mittleren Holozän, also vor etwa 10.000 bis 5.000 Jahren, waren Gesellschaften weitaus weniger stabil, und die Zu- und Abnahme einzelner Bevölkerungsgruppen war ein häufiges Ereignis. Dieser wiederkehrende Untergang von Zivilisationen durch Bevölkerungsrückgänge fasziniert Forschende seit Langem.

Bislang wurde die Ursache für diese Bevölkerungsfluktuationen hauptsächlich in Klimaveränderungen vermutet. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des LEIZA (Leibniz Zentrum für Archäologie) in Mainz hat jedoch eine neue, überraschende Erklärung für den Verfall von zivilisation gefunden: den Zusammenbruch des gesellschaftlichen Zusammenhalts und daraus resultierende gewaltsame Konflikte. Ihre wegweisende Studie wurde im renommierten Fachmagazin Nature veröffentlicht und stellt eine bedeutende Neuerung in der Archäologie und Geschichtsforschung dar. Sie fordert uns auf, die Dynamiken vergangener Gesellschaften neu zu bewerten und die Rolle interner Faktoren stärker zu berücksichtigen.

Gewalt und Konflikt als Wegbereiter für den Untergang antiker Zivilisationen

Für ihre umfassende Metastudie analysierte das Team Daten über Europas Bevölkerungsdynamiken aus dem mittleren Holozän, die vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie bereitgestellt wurden. Der untersuchte Zeitraum beginnt um 7000 v. Chr., einer Ära, in der Menschen in Europa bereits sesshaft wurden und erste komplexe Gesellschaften und dauerhafte Siedlungen bildeten. Diese Phase, bekannt als Neolithische Revolution, markiert einen fundamentalen Wandel in der menschlichen Geschichte.

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Die detaillierten Daten offenbaren, dass diese ersten sesshaften Bevölkerungsgruppen zunächst einen rapiden Bevölkerungszuwachs erlebten – einen sogenannten Boom. Dieser Boom wurde jedoch nach wenigen Jahrhunderten regelmäßig von einem Bust, einem deutlichen Bevölkerungsrückgang, abgelöst. Das Muster wiederholte sich über Jahrtausende: Die Gruppen erholten sich vom Bust, nur um bald darauf einen weiteren zu erleben. Die Forschenden prägten für dieses wiederkehrende Phänomen den Begriff „Boom-Bust-Zyklus“. Um die mayas geschichte und ähnliche Kulturen in diesem Kontext zu verstehen, müssen wir diese Zyklen als potenzielles universelles Muster betrachten.

Die Forschenden verglichen diesen Zyklus mit archäologischen Erkenntnissen über gewaltsame Konflikte und Informationen über die Aufspaltung einzelner Gruppen sowie daraus resultierende Migrationen. Dabei zeigte sich ein klares Muster: Die sogenannten „desintegrativen Phasen“ fielen oft zeitgleich mit oder kurz nach einem erhöhten Gewaltvorkommen und einer verstärkten gesellschaftlichen Spaltung zusammen. Zudem wurden diese Phasen oft von einem Anstieg der sozialen Ungleichheit begleitet. Laut der Studie sind es diese Faktoren – Gewalt, Spaltung und Ungleichheit –, die letztendlich zum Schrumpfen der Population und dem darauffolgenden Zerfall der Gesellschaft führten, was den Untergang von Zivilisationen beschleunigte.

Illustration der Neolithischen Revolution, die den Übergang von Jägern und Sammlern zu sesshaften Bauern und Viehzüchtern darstellt.Illustration der Neolithischen Revolution, die den Übergang von Jägern und Sammlern zu sesshaften Bauern und Viehzüchtern darstellt.

Der Übergang zur Sesshaftigkeit hatte weitreichende Konsequenzen, die weit über die reine Ernährungssicherung hinausgingen. Mit dem Besitz von Land, Vieh und festen Behausungen entstanden neue Formen von Reichtum, aber auch von Neid und Konkurrenz. Diese neuen Eigentumsverhältnisse waren ein fruchtbarer Boden für Konflikte, da sie Begehrlichkeiten weckten und die Verteidigung des eigenen Besitzes zur Notwendigkeit machten. Dieser Wandel wird in der kultur der maya und anderen komplexen Gesellschaften ebenfalls beobachtet, wo Ressourcenkontrolle oft zu Konflikten führte.

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Gesellschaftlicher Verfall: Eine Stärkere Ursache als Klimaveränderungen?

Dass die Bereitschaft zu größeren gewaltsamen Konflikten in Europa zunahm, als immer mehr Menschen sesshaft wurden, ist bereits durch andere Studien belegt. Menschen begannen, Land, Vieh und Häuser zu besitzen, die ihnen durch andere streitig gemacht wurden – Konflikte waren die unausweichliche Folge. Die aktuelle Studie konnte zusätzlich nachweisen, dass diese extremen Konflikte meist auch zu einer signifikanten Abnahme der Bevölkerungszahlen und dem Zerfall einzelner maya kultur und anderer Zivilisationen führten.

„Unsere Studie zeigt, dass periodischer gesellschaftlicher Verfall und die daraus folgende Zunahme von gewaltsamen Konflikten die beobachteten Zusammenbrüche vergangener europäischer Gesellschaften erklären“, fasst Peter Turchin, Mitautor der Studie und Projektleiter am Complexity Science Hub (CSH) in Wien, die Ergebnisse zusammen. Seine Forschung unterstreicht die Bedeutung sozio-politischer Faktoren gegenüber rein ökologischen Erklärungen.

Bislang war eine populäre These, dass der Zerfall einzelner Bevölkerungsgruppen und somit der Untergang von Zivilisationen durch Klimaveränderungen begünstigt wurde. Diese Annahme testete das Studienteam, indem es seine Daten zu den Populationsdynamiken auch mit klimabedingten Veränderungen verglich. Das Ergebnis war eindeutig: Die Klimadaten decken sich nicht eindeutig mit den Boom-Bust-Zyklen der damaligen Bevölkerungsdichte. Dies steht im starken Gegensatz zu den gesellschaftlichen Veränderungen und den gewaltsamen Konflikten, die eine klare Korrelation aufwiesen.

Diese Erkenntnis ist revolutionär, da sie den Fokus von externen Umweltfaktoren auf interne gesellschaftliche Prozesse verlagert. Sie deutet darauf hin, dass die Fähigkeit einer Gesellschaft, Kohäsion zu bewahren, Ungleichheit zu managen und Konflikte zu lösen, von entscheidender Bedeutung für ihr langfristiges Überleben ist. Das Verständnis der die mayas geschichte und anderer Kulturen könnte ebenfalls von dieser Perspektive profitieren, da viele ihrer Untergänge oft als multifaktorielle Ereignisse interpretiert werden.

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Fazit: Die Lehren aus den Boom-Bust-Zyklen der Vergangenheit

Die neue Forschung des LEIZA und seiner Partnerteams wirft ein neues Licht auf den Untergang von Zivilisationen im mittleren Holozän Europas. Sie zeigt, dass nicht primär das Klima, sondern der interne Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts, begleitet von eskalierender Gewalt und zunehmender sozialer Ungleichheit, die entscheidenden Faktoren für die wiederkehrenden Boom-Bust-Zyklen und den Zerfall antiker Gesellschaften waren. Diese Erkenntnisse bieten uns nicht nur ein tieferes Verständnis der Vergangenheit, sondern auch wertvolle Lehren für die Gegenwart.

Angesichts der heutigen globalen Herausforderungen, die von wachsender Ungleichheit bis hin zu politischen Spannungen reichen, erinnert uns die Geschichte daran, wie fragil gesellschaftliche Strukturen sein können. Die Bewahrung des sozialen Friedens, die Förderung von Inklusion und der effektive Umgang mit Konflikten sind fundamentale Säulen für die Stabilität und das Überleben jeder Gesellschaft. Die Fähigkeit, diese Lehren zu beherzigen und proaktiv zu handeln, könnte den entscheidenden Unterschied für die Zukunft unserer eigenen Zivilisation ausmachen.